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29.09.2021

Hinschauen und ansprechen – Umgang mit psychischen Beeinträchtigungen

Welche Gründe sehen Sie, einen Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung in Ihrem Unternehmen zu halten oder einzustellen?
Wortwolke zu der Frage: Welche Gründe sehen Sie, einen Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung in Ihrem Unternehmen zu halten oder einzustellen?

"Wenn wir nicht versuchen würden, Mitarbeitende mit psychischen Erkrankungen zu halten, dann hätten wir bald kein Personal mehr", beschrieb eine von rund 65 Teilnehmenden beim Forum Inklusion die Lage in ihrem Unternehmen. Dass das Thema "Umgang mit psychischen Beeinträchtigungen" für Unternehmen hoch relevant ist, zeigte nicht nur die hohe Teilnehmerzahl, sondern auch die Fehlzeiten aufgrund psychischer Störungen, die sich seit rund 15 Jahren mehr als verdoppelt haben. Nikolai Magdalinski, Leitung des IFD Hamburg, steckte Handlungsspielräume für Unternehmen ab und erläuterte Unterstützungsangebote. Frauke Zimmermann, Sozialberaterin bei der Beiersdorf AG, rief zum Hinschauen und Ansprechen auf und untermauerte die Botschaft mit einem Fallbeispiel aus ihrem Unternehmen.

Oliver Borszik
Bei der Moderation des Forums Inklusion kam Dr. Oliver Borszik auch seine Ausbildung zum Resilienz-Trainer zugute.

"Menschen, die krisenbedingt mit psychischen Beeinträchtigungen zu kämpfen haben, werden schnell als nicht mehr leistungsfähig und nicht mehr verlässlich stigmatisiert", beschrieb KWB-Referent Dr. Oliver Borszik die gesellschaftliche Wahrnehmung in seiner Einleitung des Forum Inklusion. "Dabei ist Resilienz, also die Fähigkeit zur guten Bewältigung einer Krise, sogar eher die Regel als die Ausnahme", berichtet er. Auch das berufliche Umfeld kann dabei helfen, dass sich psychische Probleme bei Mitarbeitenden nicht verfestigen und somit zu Langzeiterkrankungen führen.

Was ist schon normal?

Nikolai Magdalinski leitet den Integrationsfachdienst Hamburg (IFD), der sowohl Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen und auch Arbeitgeber zu dem Thema berät. "Wir alle befinden uns irgendwo zwischen 'psychischem Wohlbefinden' und 'psychischer Erkrankung'. Verschiedene Faktoren wirken darauf ein und können das eine oder andere stärken", erklärt er. Zeitdruck, fehlende Informationen, Konflikte und Arbeitsunterbrechungen schaden uns eher, während Wertschätzung, Kollegialität, Handlungsspielräume und ein passendes Anforderungsniveau positiven Einfluss auf unsere psychische Verfassung haben.

Woran erkenne ich psychische Beeinträchtigung bei Mitarbeitenden?

Die Frage, wie Mitarbeitende oder Vorgesetzte psychische Beeinträchtigungen bei Mitarbeitenden feststellen können, spielte er zunächst zurück ins Auditorium. Über ein digitales Umfragetool gestalteten die zahlreichen Teilnehmenden innerhalb kürzester Zeit eine Wortwolke mit ihren Antworten. Dabei wurden mehrfach beschriebene Beobachtungen in den Mittelpunkt gerückt und grafisch vergrößert dargestellt. "Es ist beeindruckend, was Sie geschrieben haben", kommentierte Magdalinski das Ergebnis. Teilnahmslos, unkonzentriert, traurig, unzuverlässig oder reizbar waren einige der Auffälligkeiten, die genannt wurden. "Sie beschreiben keine Krankheitssymptome, wie Stimmen-hören, sondern Beobachtungen, die Sie gemacht haben. Genau darum geht es!" Wichtig sei es, Veränderungen wahrzunehmen und nicht zu ignorieren.

Wortwolke zu der Frage: Woran haben Sie Auffälligkeiten von Kollegen/-innen erkannt?

Wortwolke zu der Frage: Woran haben Sie Auffälligkeiten von Kollegen/-innen erkannt, wenn Sie an vergangene Situationen in Ihrem Arbeitsumfeld denken? (Anklicken zur Vergrößerung)

 

Wie können sich psychische Probleme äußern?

"Wir unterscheiden vier Bereiche der Auffälligkeit", erläuterte Nikolai Magdalinski. "Grundarbeitsfähigkeit, Leistungsbereich, sozialer Bereich und körperlicher Bereich." Die Auffälligkeiten der ersten beiden Bereiche wie Unzuverlässigkeit und Fehlzeiten würden schnell wahrgenommen werden. Wenn dann Misstrauen und Konflikte im sozialen Bereich hinzukommen, entstehe meist Handlungsdruck. Aber was tun?

Wie spreche ich als Führungskraft einen Mitarbeitenden mit Auffälligkeiten an?

"Das Balancemodell gibt einen groben Handlungsrahmen vor. Sie, als Vorgesetzte oder Vorgesetzter, sind kein psychologisches Fachpersonal. Sie können nur Auffälligkeiten wahrnehmen und diese ansprechen", umschreibt Nikolai Magdalinski die Rolle der Führungskräfte. "Finden Sie eine Balance zwischen Fürsorge auf der einen Seite und Konfrontation mit den Arbeitsanforderungen auf der anderen Seite. Die Gewichtung verschiebt sich dabei im Verlauf der Zeit."

Welche Unterstützungsangebote gibt es?

NiKolai Magdalinski
Nikolai Magdalinski, Leiter des IFD Hamburg, gab den Unternehmensvertretern/-innen eine Orientierung, wie sie mit psychischen Beeinträchtigungen von Mitarbeitenden umgehen können.

"Kleine und mittelgroße Unternehmen haben meist keine eigene psychosoziale Beratungsstelle. Je nach Standort des Unternehmens gibt es aber einen zuständigen Integrationsfachdienst", erklärt der Leiter des IFD Hamburg. "Wir beraten Menschen mit psychischen Erkrankungen und auch Arbeitgeber bezüglich des Umgangs mit behinderungsspezifischen Problemen am Arbeitsplatz." Einen Überblick über weitere Anlaufstellen in Hamburg präsentierte Oliver Borszik und stellte den Teilnehmenden das Dokument über den Chat zur Verfügung.

Warum lohnt es sich, Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen einzustellen?

Argumente gegen die provokante Eingangsthese von Nikolai Magdalinski, dass es keine Gründe für die Einstellung und Bindung von Menschen mit psychischer Behinderung gebe, wurden direkt aus der Praxis geliefert. Eine große, wertschätzende Wortwolke zu den vielfältigen Gründen für die Neueinstellung und auch Bindung von Mitarbeitenden mit psychischen Beeinträchtigungen entstand durch die digitalen Rückmeldungen der Teilnehmenden. Dabei spielten unternehmerische Gründe wie "Prozess- und Fachwissen halten" genauso eine Rolle wie soziale und gesellschaftliche Verantwortung, das Betriebsklima als auch Ansätze wie, den Menschen als Ganzes zu sehen und Krise als Chance zu begreifen.

Wortwolke zu der Frage: Welche Gründe sehen Sie, einen Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung in Ihrem Unternehmen zu halten oder einzustellen?

Wortwolke zu der Frage: Welche Gründe sehen Sie, einen Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung in Ihrem Unternehmen zu halten oder einzustellen? (Anklicken zur Vergrößerung)
 

Wie sieht ein Mensch mit psychischer Auffälligkeit aus?

Von den vielfältigen Rückmeldungen war auch Frauke Zimmermann beeindruckt. Sie ist eine von drei psychosozialen Beraterinnen bei der Beiersdorf AG und startet ihren Impulsvortrag mit der Aufforderung an die Teilnehmenden, mal vorzumachen, wie eine Person mit psychischer Beeinträchtigung wohl gucken und sitzen würde. Die Galerieansicht im Bildschirm zeigte die unterschiedlichsten Gesichtsausdrücke und Körperhaltungen der Teilnehmenden. "Man sieht es deutlich: Psychische Beeinträchtigung hat viele Gesichter", bestätigte sie. "Aber man kann Auffälligkeiten erkennen und sollte sie ansprechen." Die wohlwollende Ansprache ermögliche einen Dominoeffekt, der die betroffene Person in den Bereich des Handelns bringe.

Was sagen betroffene Personen?

Frauke Zimmermann
Frauke Zimmermann berichtete von ihren Erfahrungen als psychosoziale Beraterin bei der Beiersdorf AG.

Über eine vierminütige Tonaufnahme ließ Frauke Zimmermann eine betroffene zwanzigjährige Mitarbeiterin zu Wort kommen: "Jeder Mensch ist anders – deshalb hilft auch kein Fünf-Punkte-Plan. Der erste Schritt ist die Beratungshilfe, weil zunächst ja gar nichts klar ist ... nur graue Wolken", berichtet sie. "Da ist es erst mal gut zu hören, dass man nicht allein mit seinem Problem ist. Sondern, dass es ganz viele Menschen im Unternehmen betrifft und es ein Beratungsangebot gibt. Schon das hat mir sehr geholfen."

Wie kann ich betroffenen Mitarbeitenden im Unternehmen helfen?

Der Perspektivwechsel durch den Beitrag förderte einen regen Austausch unter den Teilnehmenden über Wortmeldungen und den Chat. "Führungskräfte bekommen keine Fortbildungen, um angemessen reagieren zu können. Es ist gut, hier viel Input zu bekommen. Mir wird aber auch klar, wie groß und schwierig das Thema ist", so eine Unternehmensvertreterin.

Schließlich meldete sich auch ein weiterer Betroffener: "Ich kann aus eigener Erfahrung berichten, dass die größte Hilfe ist, wenn einem jemand zuhört", erklärte er. Sein Appell ging an alle Teilnehmenden der Veranstaltung, aufmerksam zu sein. Auch Frauke Zimmermann betonte abschließend: "Ich möchte Mut machen, hinzuschauen und anzusprechen!"

Was nehmen die Teilnehmenden aus dem Forum mit?

"Ich werde das Thema ins Führungskräfteteam transportieren, um dafür zu sensibilisieren. Außerdem möchte ich meine eigenen Kompetenzen immer wieder schärfen und den Blickwinkel wieder weiter stellen", so ein Feedback. Andere Teilnehmende stellen fest: "Mir hat die Einführung ins Thema gut gefallen. Ich habe Tipps erhalten und mir wurden klare Handlungswege aufgezeigt."

Auch das Veranstaltungsformat kam bei den Teilnehmenden gut an:

"Die digitalen Umfragen fand ich klasse. Das geht viel schneller als Wortbeiträge und ist gut für diejenigen, die nicht so gern im Mittelpunkt stehen."

"Besonders die Berichte aus der Praxis haben mir gefallen. So war es kein rein theoretischer Input."

Wie geht’s weiter?

"Wir haben uns über die wertvollen Beiträge der Referentinnen und Referenten als auch der Teilnehmenden im Rahmen dieses Forums sehr gefreut", so Veranstalter Oliver Borszik. "Das positive Feedback zeigt uns, dass wir bei Inhalt und Format den Wünschen der Teilnehmenden entsprochen haben. Darauf möchten wir gern aufbauen."

Jutta Spormann, verantwortliche Referentin der Hamburger Sozialbehörde, ergänzte mit Blick auf die nächste Veranstaltung: "Aufgrund des großen Interesses und dem spürbaren Informationsbedarf der Unternehmen möchten wir im kommenden Forum Inklusion gern an das Thema anknüpfen und weitere Anlaufstellen präsentieren."

Download

► Präsentation von Nikolai Magdalinski, IFD Hamburg (PDF, 500 KB)
► Anlaufstellen bei psychischer Belastung, Beeinträchtigung und Erkrankung (PDF, 190 KB)

Hintergrund

Das Projekt Fachkräfte für Hamburg der KWB e. V. setzt das Forum Inklusion im Auftrag der Sozialbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg im Rahmen des Aktionsbündnisses für Bildung und Beschäftigung Hamburg – Hamburger Fachkräftenetzwerk um. Wenn Sie zum nächsten Forum Inklusion eingeladen werden möchten, können Sie sich über eine E-Mail an Monika Ehmke (monika.ehmke@kwb.de) auf den Verteiler setzen lassen.