In unserem Newsblog finden Sie Blogbeiträge rund um das Thema Demografie in der Arbeitswelt sowie Veranstaltungstipps und Nachberichte eigener Veranstaltungen zum Stöbern. © Modrow
Im Online-Forum zum betrieblichen Gesundheitsmanagement am 23. November 2023 haben wir uns mit psychischer Erkrankung und dem Stigma, das damit noch immer verbunden ist, auseinandergesetzt. Knapp 60 Interessierte verfolgten die Impulse aus Wissenschaft sowie betrieblicher Praxis und tauschten sich darüber aus, was Unternehmen zu Entstigmatisierung beitragen und wie Kollegen/-innen und Vorgesetzte einen vorurteilsfreien Umgang mit psychisch Erkrankten finden können.
"Stigma bedeutet, dass Menschen eine Person nicht als Individuum beurteilen und auf sie reagieren, sondern aufgrund der negativen Eigenschaften, die ihrer Gruppe zugeschrieben werden", erläuterte Prof. Dr. Nicolas Rüsch, Leiter der Sektion Public Mental Health in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II der Universität Ulm in seinem Impulsbeitrag und ergänzte: "Häufige Stereotypen sind zum Beispiel 'Psychisch Kranke sind faul, gefährlich oder selbst schuld.'"
Eine Voraussetzung für Stigma ist, dass Menschen sich selbst von anderen abgrenzen. "Sie denken, es gebe eine Trennlinie zwischen 'psychisch gesund' und 'psychisch krank', was jedoch ein Irrglaube ist", so der Wissenschaftler. "Wir alle bewegen uns auf einem Kontinuum zwischen diesen Polen, der Übergang ist also fließend", stellte er klar. Stigma ist ein Oberbegriff für mehrere Prozesse: Stereotype, Vorurteile, diskriminierendes Verhalten, sozialer Ausgrenzung und Statusverlust. In einer weltweiten Studie gaben rund 80 Prozent der befragten Menschen mit einer psychischen Erkrankung an, dass sie Diskriminierung im sozialen Umfeld, in der Familie, bei Freunden, in der Arbeitswelt, in der Partnerschaft oder bei der Partnersuche erlebt hatten.
Wenn Betroffene selbst diese Vorurteile übernehmen, komme es zu einer Selbststigmatisierung, die ein Gefühl von Wertlosigkeit bis hin zu sozialem Rückzug erzeugen kann ("Weil ich psychisch krank bin, muß ich dumm sein"). Diese individuelle Stigmatisierung wird gestützt durch strukturelle Diskriminierung. So weist das deutsche Gesundheitssystem eine strukturelle Unterversorgung schwer psychisch Erkrankter im ambulanten Bereich auf, Folge sind u.a. lange Wartezeiten auf ambulante Therapie, wodurch etwa der Verlust des Arbeitsplatzes wahrscheinlicher wird. "Stigma ist soziales Unrecht", konstatierte Prof. Rüsch, "und jeder Mensch hat das Recht, frei von Stigma und Selbststigma zu leben."
Stigmatisierung ist ein wesentlicher Faktor, warum Betroffene teilweise nicht im Hilfe- und Beratungssystem ankommen oder Behandlungen vorzeitig abbrechen. Sie ziehen es vor, ihre Erkrankung für sich zu behalten und auch am Arbeitsplatz nicht darüber zu sprechen. Die Angst vor Diskriminierung sei durchaus begründet, gaben in der Diskussion einige Unternehmensvertreter/-innen preis. Andererseits könne der Arbeitgebende seiner Fürsorgepflicht nur bei Offenlegung nachkommen, setzen andere entgegen "Ich würde mir schon überlegen, ob ich überhaupt für ein Unternehmen arbeiten möchte, in dem ich mich mit meiner Erkrankung verstecken muss", so eine Teilnehmende.
"Die Entscheidung, wie sich psychisch Erkrankte in Bezug auf die mögliche Offenlegung ihrer Erkrankung verhalten sollten, können diese nur individuell und auf ihr soziales sowie berufliches Umfeld bezogen entscheiden", lautete die Empfehlung von Prof. Rüsch. Um bei dieser Abwägung zu unterstützen, hat er das Programm "In Würde zu sich stehen" im deutschsprachigen Raum entwickelt. Das Programm zur Stigmabewältigung und zum Selbststigma-Abbau für Menschen mit psychischen Erkrankungen hilft bei Offenlegungsentscheidungen und wird von Menschen geleitet, die selbst betroffen waren, sogenannten Peers. Es wird derzeit in einer vom Bundesgesundheitsministerium geförderten Studie auf seine Wirksamkeit und Umsetzbarkeit untersucht.
Gehen Menschen etwa depressiv zur Arbeit, spricht man von Präsentismus. Da nicht die volle Leistung erbracht werden kann, entstehen beträchtliche Produktivitätsverluste und höhere Kosten als durch eine Behandlung der Depressionen entstünden. In Krisenzeiten wie diesen sind vulnerable Gruppen stärker gefährdet. Ein Grund mehr, arbeitgeberseitig gegen die Stigmatisierung vorzugehen.
"How to fix it? Wie können wir Stigma reduzieren?", leitete Prof. Rüsch in den lösungsorientierten Teil über. Er nannte drei Strategien, die gegen öffentliches Stigma wirken:
Während die Wirkung von Edukation bei bevölkerungsweiten Aufklärungskampagnen sehr gering sei, sei der Ansatz insbesondere bei jungen Menschen vielversprechender. Sinnvoll wäre es zum Beispiel, das Thema "psychische Gesundheit" zum Schulinhalt zu machen.
Als wirksamste Strategie habe sich die Herstellung von direktem, positivem, kooperativem Kontakt, etwa in Form eines Workshops, herausgestellt. Dabei kommt die Zielgruppe (z. B. ein Dutzend Arbeitgeber einer Stadt) zusammen mit Menschen, die eine psychische Erkrankung überwunden haben, und letztere erzählen von sich. Von Mensch zu Mensch ließen sich Vorurteile und Ängste abbauen. Gerade bei einflussreichen und relevanten Personengruppen wie Lehrkräften, Führungskräften, Arbeitgebern oder der Polizei ist Kontakt als Antistigma-Strategie zu empfehlen.
Kontaktbasierte Antistigma-Arbeit leiste u. a. die Initiative "Irrsinnig menschlich" in Leipzig. Sie engagiert sich vorwiegend an Schulen sowie Universitäten und bringt Schüler/-innen oder Studierende mit Betroffenen zusammen, um Vorurteile abzubauen. Prof. Rüsch vertritt die Meinung, dass gute Arbeit gegen öffentliches Stigma grundsätzlich immer lokal stattfinden sollte.
Prof. Rüsch rundete seinen Vortrag mit fünf Tipps für die Umsetzung von Kontaktinterventionen ab:
Zur Bestärkung aller Betroffenen verwies der Wissenschaftler auf die UN-Behindertenrechtskonvention, die Menschen mit Einschränkungen u.a. ein Recht auf Arbeit, Ausbildung und Wohnen zugesteht. Notwendig sei ein Kulturwandel in der gesamten Gesellschaft. Denn obwohl inzwischen fast ein Drittel der Bevölkerung irgendwann von psychischen Erkrankungen betroffen ist, findet Diskriminierung mit verheerenden Folgen statt. Prof. Rüsch appellierte an die politischen Entscheidungsträger/-innen: "Ich würde mir wünschen, dass Sozial-, Gesundheits- und Gesellschaftspolitik das Thema psychische Gesundheit quer durch die Politikbereiche berücksichtigt."
Weitere Informationen zum Thema enthält das Buch "Das Stigma psychischer Erkrankung: Strategien gegen Ausgrenzung und Diskriminierung" von von Nicolas Rüsch, Martina Heland-Graef, Janine Berg-Peer.
Welche Möglichkeiten Unternehmen haben, für die Gesundheit ihrer Mitarbeitenden zu sorgen, zeigte Jasmin-Sophie Bitterle am Beispiel der Volksbank Ulm-Biberach auf. "Bei uns ist das betriebliche Gesundheitsmanagement ein fester Bestandteil der Unternehmenskultur und zielt darauf ab, Gesundheit, Lebensqualität und Leistungsfähigkeit der Mitarbeitenden zu erhöhen“, erklärte die Gesundheitsmanagerin, "und vor allem steht der Mensch bei uns immer im Mittelpunkt."
Sie hat das ganzheitliche betriebliche Gesundheitsmanagement der Volksbank maßgeblich weiterentwickelt und eine beeindruckende Vielfalt an präventiven und kurativen Angeboten geschaffen, für die das Unternehmen mehrfach ausgezeichnet wurde.
Regelmäßig durchgeführte Gesundheitsbefragungen zeigen eine hohe Mitarbeiterzufriedenheit und ermöglichen den Zuschnitt einer passgenauen Angebotspalette rund um die Themen Bewegung, Ernährung und Life Balance. Gesunde Arbeitsplatzgestaltung, medizinische Vorsorge, Betriebssport, Gesundheitstage, aktive Pausen, Webinare und weitere präventive Angebote stehen allen Mitarbeitenden zur Verfügung. Kurativ bietet die Volksbank Beratung und betriebliches Eingliederungsmanagement an.
"Die mentale Belastung der Mitarbeitenden ist auch bei uns spürbar", konstatierte die Referentin und ergänzte: "deshalb umfasst unser Gesundheitsmanagement ebenfalls Angebote, die zur psychischen Gesundheit beitragen." Im Bereich der Prävention setzt die Volksbank auf Sensibilisierung, Stärkung der Gesundheitskompetenz, seelische Ersthelfer/-innen und gesunde Führung.
"Führungskräfte sind Vorbilder und Vermittelnde – auch in Sachen Gesundheit“, betont die Referentin. Dabei benötigen aber auch sie Unterstützung, denn die Anforderungen verändern sich rasant: hybride Führung, digitale Kommunikation, Förderung von Selbstorganisation und neue Regeln in der Zusammenarbeit bestimmen die Arbeitswelt. In der Volksbank Ulm-Biberach arbeiten Personal- und Organisationentwicklung zusammen, organisieren Austauschrunden und Weiterbildungsangebote, aber alles ohne Druck und Bewertung, sondern auf Augenhöhe.
Und wie trägt die Volksbank zur Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen bei? Auch darauf hat Bitterle eine Antwort: "Mit einer Kampagne zur psychischen Gesundheit wollen wir der Psyche ein Gesicht geben, Bewusstsein und gegenseitiges Verständnis schaffen." Das Projekt mit vier Modulen animiert zu einem offenen Umgang mit psychischen Belastungen und Erkrankungen im Arbeitsumfeld.
Im ersten Modul geht es darum, aufzuklären, Sichtbarkeit zu schaffen und Anzeichen zu erkennen. Ein offener Austausch über "Jedermanns Rucksack" mit den Kollegen/-innen steht im Zentrum des zweiten Moduls. Den anderen mit seinen Belastungen wahrzunehmen und zu unterstützen ist Ziel des dritten Bausteins. Und im vierten Modul werden inner- und außerbetriebliche Angebote vorgestellt. In den Modulen wird mit Plakaten, erzählten Geschichten, Gesprächsleitfäden und Informationsbroschüren gearbeitet.
"Entstigmatisierung ist ein gemeinsamer Prozess, der seine Zeit braucht", fasst Bitterle zusammen. Zwei Dinge sind nach ihrer Erfahrung ausschlaggebend für den Erfolg von Maßnahmen: "Wir müssen Betroffene zu Beteiligten machen und die Führungskräfte sowie die Unternehmensführung mit ins Boot holen."